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Was antreibt...

Michael Seibel • Anläßlich der Lektüre Nietzsches   (Last Update: 24.02.2014)

Nietzsche nennt sein Betreiben eine Genealogie. Versuchen wir, uns zu verständigen:
Was heißt es, etwas geschichtlich zu verstehen und zu erklären?

Hat das eine feste Bedeutung, sodaß man sagen kann, jeder der von sich behauptet, eine geschichtliche Erklärung abzugeben, beanspruche damit das gleiche? Nietzsche sagt ja jetzt nicht einmal geschichtlich, er sagt genealogisch. Er verwendet das Wort Ursprung, spricht von Bedingungen. „Unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werthurtheile gut und böse?“

Heute verstehen wir die Geschichtswissenschaft als empirische Wissenschaft. D.h. wir erwarten Quellen, Denkmäler, ganze Felder von Befunden. Und da uns völlig klar ist, dass wir damit immer noch nicht das Insgesamt der damaligen Realität erfasst haben, sind wir extrem zurückhaltend mit der Behauptung, den Ursprung von etwas gefunden, notwendige oder hinreichende Bedingungen geschichtlicher Entwicklungen verstanden zu haben. Wir wissen nicht einmal genau, ob wir zurecht von Entwicklungen sprechen dürfen oder ob es sich nicht bloß um eine Abfolge von Zuständen und deren Veränderung handelt.

Bei Nietzsches Frage: wie hat sich die Moral entwickelt, ist die Schwierigkeit besonders groß, denn entweder liegen die Anfänge in einer Zeit ohne schriftliche Überlieferung oder wir bekommen es, setzen wir später an, mit einer solchen Fülle von unterschiedlichen Kulturen und mithin auch mit unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen zu tun, dass man 1. nicht mehr von Anfang oder Ursprung sprechen kann und es 2. in der Tat der Herkulesarbeit der Geschichtswissenschaft bedarf, um genügend zu differenzieren.

Ist bei Nietzsche irgend etwas von der Verpflichtung auf Tatsachen im Sinne moderner Geschichtsschreibung zu finden? Ganz sicher nicht. Ganz im Gegenteil nennt das Nietzsche einen „Götzendienst des Tatsächlichen“. Warum sagt er das? Der Ausspruch findet sich in Nietzsches polemischer Schrift: » Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. Wer Lust hat, einmal hineinzulesen, wird sicher Spaß dabei haben. Sie ist ebenso gut zu lesen wir »Zur Genealogie der Moral«. Ich sende sie im Anhang mit.

(Kurzes Zitat daraus zur Appetitanregung: „Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Tiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Tier. Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, daß ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so daß der Mensch sich darob verwunderte.“)

Warum befassen wir uns überhaupt mit unserer Geschichte?
Die kürzeste Antwort, die ich kenne, weist zugleich auf ein großes Rätsel hin:
Wir beschäftigen uns mit ihr wegen der Gegenwärtigkeit des Vergangenen.

In dieser Gegenwärtigkeit stecken nie nur vergangene Fakten, sondern immer auch eine erzählerische Komponente erfundener Zusammenhänge, sozusagen ein kreatives Moment, ohne das auch ein noch so dichtes Netz historischer Fakten keinen Sinn bekommt.

Bei Flissers finde ich den Satz: Wenn nichts mehr erzählt wird, wird auch nichts mehr geschehen.

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